Notfallseelsorge

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Die Notfallseelsorge wendet sich an alle Menschen und deren Angehörige in Krankheitssituationen, unabhängig von ihrer Lebens- & Glaubensorientierung. Außerdem begleitet sie auch das Klinikpersonal in Krisensituationen durch Gespräche oder rituelle Handlungen. Sie bewegt sich in einem interkulturellen und multireligiösen Raum, unterliegt der Schweigepflicht und ist nicht den Kliniken zur Auskunft verpflichtet! In den Kliniken gibt es in der Regel eine ökumenische Kooperation, vor allem mit der katholischen Kirche.

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Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

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Interview

ForuM-Studie ist Doppelpunkt

Julia Stroh

Erstmals hat Pfarrer Mathias Schwarz auf einer Dekanatssynode über sexualisierter Gewalt refereriert. Dort sprach der Beauftragte für die Unterstützung Betroffener bei der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der EKHN zur ForuM-Studie und zur Sexualisierten Gewalt in der Kirche. Für ihn ist die Studie vor allem ein Doppelpunkt. Holger-Jörn Becker-zu-Wollf hat ihn dazu interviewt.

Isabelle SchreiberMatthias Schwarz liest vor aus dem Buch "Entstellter Himmel"

Die ForuM-Studie ist für ihn ein Doppelpunkt: Die Aufarbeitung sei noch lange nicht zu Ende, auch wenn schon in den vergangenen Jahren doch einiges auf den Weg gebracht wurde, sagt er. Matthias Schwarz (63) stammt aus Hessen und war bis zum Eintritt in den Ruhestand im November 2023 Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN).

Der Beauftragte für die Unterstützung Betroffener bei der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der EKHN ist seit Juli 2022 Mitglied der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der EKD. Er selbst ist Betroffener: Als Jugendlicher wurde er von seinem Gemeindepfarrer sexuell missbraucht. Heute hilft der Pfarrer anderen betroffenen Menschen. Matthias Schwarz war Anfang März Mitte zu Gast auf der Dekanatssynode in Taunusstein.

Hat Sie das Ergebnis der ForuM-Studie überrascht?

Nein, nicht wirklich. Mir war schon länger deutlich, dass es viel mehr Betroffene gibt als „offiziell“ bekannt. Und auch durch meine Mitarbeit als Co-Forscher in einem der Teilprojekte der Studie hatte ich schon eine Idee der Ergebnisse. Was mich tatsächlich überrascht hat, ist, dass der Umgang mit Betroffenen sich über all die Jahre kaum grundlegend verändert hat. Sie werden auch heute noch als Störenfriede angesehen, die es gilt, möglichst schnell „abzuarbeiten“. Und herausfordernd finde ich die theologischen Implikationen: Wie ist das mit Schuld und Vergebung? Wie ist das mit dem „Harmoniezwang“? Wie ist das mit der Macht, die nicht nur Pfarrpersonen ausüben?

Sie haben im Dekanatskonvent darüber gesprochen, dass Sie als Jugendlicher missbraucht wurden. Wie konnte es dazu kommen?

Der Pfarrer war ein angesehener Mann im Dorf, viele halten ihn noch bis heute für den besten Pfarrer, den die Gemeinde jemals hatte. Auch ich habe zu ihm aufgeschaut. Mein Vertrauen in ihn als Amtsperson hat er dann schmählich missbraucht. Da er auch eine gute Beziehung zu meiner Familie hatte, war mein Gefühl, dass ich alleine damit klar kommen muss. Außerdem war es damals unmöglich über Sexualität – in welcher Weise auch immer – zu reden. Mein Schweigen hat ihm die Möglichkeit gegeben, immer wieder übergriffig zu werden über mehrere Jahre hinweg.

Trotz dieser Missbrauchserfahrungen sind Sie Pfarrer geworden.
Wie haben Sie den Missbrauch verarbeitet?

Einen großen Teil meines Lebens habe ich die Erlebnisse tief in meinem Herzen vergraben. Erst als ich einen Zusammenbruch hatte, war ich in der Lage, mich meinen Erinnerungen zu stellen. Von da an habe ich mit therapeutischer Hilfe meine Geschichte für mich aufgearbeitet. Das ist keine Sache, die irgendwann erledigt ist. Ich werde bis an mein Lebensende mit den psychischen, spirituellen und auch körperlichen Folgen umgehen müssen. Immer jedoch war der Glaube ein wichtiger Halt für mich. Das Vertrauen, da ist einer, der mich sieht, wie ich bin.

Was hat Ihnen darüberhinaus noch geholfen?

Zum Glück habe ich damals auch andere Menschen kennengelernt, die mich im Glauben unterstützt haben: ein Pfarrer, der am Gymnasium Religionsunterricht gab oder eine Gemeindehelferin, die in unserer Gemeinde eine Zeitlang war. Später dann waren es Menschen, deren Hilfe ich in Anspruch genommen habe, ob in Form von Therapie oder geistlicher Begleitung. Im Moment sind es andere Betroffene, mit denen ich im Austausch bin, die mir weiterhelfen. Wir stützen uns gegenseitig, geben uns gegenseitig Mut und Ausdauer.

Was empfehlen Sie betroffenen Personen?

Bitte, bitte, redet! Schweigt nicht solange, wie ich es getan habe! Es gibt Ansprechstellen in der Kirche, aber auch Beratungsstellen außerhalb der Kirche. Ja, es ist nicht einfach, in Worte zu fassen, was einem widerfahren ist. Aber es ist wichtig! Es ist der erste Schritt, um mit dem Erlebten umzugehen. Bitte, bitte, redet!

Was kann die ForuM-Studie in der Kirche bewirken?

Zunächst mal bekommt das Thema Aufmerksamkeit. Es ist halt nicht weit weg, sondern mitten unter uns. Dann gibt die Studie viele Anregungen, was die Kirchen, die Gemeinden, die Einrichtungen tun können. Im Moment wird ein Maßnahmenplan entwickelt, der sich aus den Empfehlungen der Forschenden ableitet.
Am Wichtigsten aber erscheint mir, dass in jeder Kirchengemeinde, in jeder diakonischen Einrichtung eine Sensibilisierung erfolgt und wir sprachfähig werden. Über sexualisierte Gewalt darf, kann, muss man reden! Das ist kein Tabu-Thema, sondern – auch mit dem Blick auf andere gesellschaftliche Bereiche – es gehört zu unserem Alltag, leider.

Was empfehlen Sie der Evangelischen Kirche als Arbeitgeber?

Auf EKD-Ebene wird es um die Entwicklung von Standards gehen: wie geht man mit Betroffenen um? Wie läuft das mit den Anerkennungsleistungen? Wie arbeiten die Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen? Welche Anforderungen gibt es an Präventions- und Interventionskonzepte? Wichtig wird sein, dass diese Standards wirklich in allen Landeskirchen umgesetzt werden.

In der EKHN wird man dies sicherlich bei allem Tatendrang berücksichtigen. Doch auch hier warten Aufgaben: Wie kann man proaktiv aufarbeiten (beispielsweise in Fällen, wo es vermutlich noch mehr Betroffene gibt)? Wie kann ein Monitoring der Präventionskonzepte aussehen? Wie können die Menschen vor Ort (Leitende und Präventionsbeauftragte) dafür sorgen, dass nicht nur das Thema sondern auch die Hilfsmaßnahmen bekannt werden?

Und in jeder Gemeinde wird man sich fragen müssen: was machen wir eigentlich?

Warum braucht es in der EKD das Beteiligungsforum?

Auf EKD-Ebene gibt keinen Beirat, sondern es gibt das Beteiligungsforum. Statt nur zu „beraten“ arbeiten in diesem Forum Beauftragte der Kirche gemeinsam mit Betroffenen an Lösungen. Die Perspektive der Betroffenen ist dabei enorm wichtig, weil wir natürlich aus unserem Erleben die Schwachpunkte viel besser kennen. Sie entscheiden mit, sie setzen Themen und halten den Beauftragten auch immer mal den Spiegel vor. So erarbeiten wir im Moment ein Modell für Anerkennungsleistungen, das EKD-weit den Maßstab setzen soll, wir überarbeiten das Disziplinarrecht, um es für Betroffene sicherer zu machen. Und voraussichtlich Mitte April wird es eine Vernetzungsplattform geben, die ganz von Betroffenen entwickelt wurde und die unabhängig von Kirche ist.

Was muss die Kirche noch besser machen bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch?

Sie muss noch viel transparenter und klarer agieren. Es läuft ja schon vieles wirklich gut. Fast alle Gemeinden haben zum Beispiel Präventionskonzepte und Ansprechpartnerinnen oder -partner. Das muss aber noch mehr nach außen dringen. Außerdem muss es auf EKD-Ebene ein noch klareres einheitliches System der Anerkennung und Unterstützung für Opfer sexuellen Missbrauchs geben. Wenn Kirche sagt, dass sie die Aufklärung zur „Chefinnensache“ machen will, dann bitte auch ordentlich!

Wo stehen Sie jetzt?

In den vergangenen zwei Jahren, seitdem ich mich öffentlich engagiere, hat sich für mich noch mal einiges geklärt. Ich habe eine größere Selbstsicherheit entwickelt, was mich und meine Geschichte angeht; sie ist kein Fremdkörper, sondern Teil von mir. Und für mich persönlich kann ich sagen: Ich bin gut, so, wie ich bin. Auch mit dieser Geschichte.

Danke für das Interview. (Das Interview führte Holger-Jörn Becker zu Wollf)

» Buchtipp: Mehr Erfahrungsberichte von betroffenen Menschen wie Matthias Schwarz sind nachzulesen im Buch "Entstellter Himmel" (Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche), herausgegeben von Christiane Lange / Andreas Stahl / Erika Kerstner. Es ist erschienen im Herder-Verlag mit der ISBN 978-3-451-39453-9.


» Medientipp: Matthias Schwarz zu Gast im Podcast "Pfarrer & Nerd" (Folge 130)
im Youtube-Kanal zu sehen unter  www.youtube.com/watch


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Kontakte und Hilfen:

Sie möchten über sexuelle Übergriffe oder über einen Verdacht reden?
Dann wenden Sie sich vertraulich an folgende Stellen:


Ansprechpersonen in der EKHN sind:

» Fachstelle gegen Sexualisierte Gewalt
Geschäftsstelle
Paulusplatz 1
64285 Darmstadt
Telefon: 06151 – 405 106
geschaeftsstelle@ekhn.de

» Unter dem Seelsorgegeheimnis stehend:
Pfarrerin i.R. Anita Gimbel-Blänkle
Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt
Paulusplatz 1
64285 Darmstadt
ansprech-pfarrperson@ekhn.de 
Telefon: 06151 - 405 414


» Für den Bereich Kindertagesstätten:
Andrea Sälinger
Beauftragte für Kinderschutz der EKHN
Heinrichstraße 173
64287 Darmstadt
andrea.saelinger@ekhn.de 
Telefon: 06151 - 6690234


» Zur Begleitung und Unterstützung Betroffener:
Matthias Schwarz
Betroffenenvertreter Fachstelle gegen Sexualisierte Gewalt
Matthias.Schwarz@befo.ekd.de 
Telefon: 01515  - 94 70 112

» Meldekanal der EKHN für Verdachtsfälle:
ekhn.integrityline.app

» Zentrale Anlaufstelle der EKD:
www.anlaufstelle.help

» Mehr zur Prävention und Kindeswohl im Ev. Dekanat an der Dill:
ev-dill.de/mitarbeiten/gewaltpraevention-kindeswohl.html

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