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Kirchenpräsident Jung verteidigt EKD-Familienpapier

„Homosexualität ist weder Krankheit noch Sünde"

lisafx/istockphoto.com

Im Interview verteidigt EKHN-Kirchenpräsident und Co-Autor der Orientierungshilfe Volker Jung das umstrittene Papier der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu Ehe und Familie.

EKHN

Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung hat das umstrittene Papier der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu Ehe und Familie verteidigt. Es gebe weder das Leitbild Ehe auf noch schade es der Ökumene, sagte der Co-Autor der Orientierungshilfe im Interview mit Dieter Schneberger vom Evangelischen Pressedienst (epd). Die Kritik habe sich vor allem an der Neubewertung homosexueller Lebenspartnerschaften entzündet. Für ihn sei Homosexualität weder Krankheit noch Sünde, sondern Teil der Schöpfung, sagte Jung. Der Kirchenpräsident äußerte sich auch zur Flüchtlingspolitik, zum Verhältnis Kirche-Wirtschaft und zur NSA-Spionageaffäre.

Herr Kirchenpräsident, hätten Sie gedacht, dass das Mitte Juni veröffentlichte EKD-Familienpapier so ausführlich und so leidenschaftlich diskutiert wird?

Jung: Mir war bewusst, dass das ein Thema ist, über das gesprochen werden wird. Ich habe aber nicht damit gerechnet, dass die Diskussion diese Dimension und auch diese Härte und Schärfe annimmt.

Die Kritik an der Orientierungshilfe macht sich vor allem an drei Punkten fest: Die theologische Grundlegung sei zu dürftig, das Papier gebe ohne Not das Leitbild Ehe auf und es schade der Ökumene. Was halten Sie dem entgegen?

Jung: Das EKD-Papier gibt Ehe und Familie nicht als Leitbild auf. Es hat vielmehr die Absicht, Familien zu stärken. Wenn sich eine Perspektive geändert hat, dann die, dass das klassische Verständnis von Ehe in einen weiteren Horizont des Familienbegriffs hineingestellt wird. Ich glaube auch nicht, dass mit dieser Perspektive, die Wert darauf legt, Ehe und Familie von den Inhalten her neu zu verstehen, ökumenisches Porzellan zerschlagen worden ist. Die größte Differenz besteht eher bei der Frage, wie gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu beurteilen sind. Wir waren uns in der Kommission schnell einig, dass wir die Neubewertung dieser Partnerschaften nicht ausklammern können. 

Zu welchem Ergebnis ist der Theologe Volker Jung gekommen?

Jung: Es gibt Bibelstellen, die Homosexualität verurteilen. Wir haben aber gelernt, dass im Jahr 2013 Homosexualität anders zu sehen ist. Für uns heute ist Homosexualität weder Krankheit noch Sünde, sondern eine unveränderbare Veranlagung. Mit diesem Wissen müssen wir entsprechende Bibelstellen kritisch unter die Lupe nehmen und neu bewerten. Man muss etwa fragen, ob Homosexualität in den Zusammenhang der Schöpfung gehört. Ich sehe das zum Beispiel so. Solche Fragen sind die eigentliche theologischen Herausforderung. Sie müssen im intensiven Gespräch geklärt werden.  

Wäre das nicht ein Auftrag an die Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)?

Jung: Ja, das wäre eine Möglichkeit. Die neue Lebensordnung der hessen-nassauischen Kirche hat den Fragen der biblisch-theologischen Grundlegung auch mehr Raum gegeben.  

Die Ordnung für die Gemeindepraxis wurde Mitte Juni bei nur drei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen von der Kirchensynode verabschiedet. Darin enthalten ist auch die weitgehende Gleichstellung von Trauung und Segnung homosexueller Partnerschaften. Als Verärgerung darüber legte der Darmstädter Synodale Jürgen Heitmann sein Mandat nieder. Wissen Sie, ob weitere Synodale seinem Schritt gefolgt sind? Wie viele negative Reaktionen haben Sie seitdem erhalten?

Jung: Viele haben die offene und faire Debatte in der Synode gelobt, bei der auch kritische Stimmen zu Wort kamen. Weitere Mandatsniederlegungen sind mir nicht bekannt. Nach dem Synodenbeschluss habe ich etwa zwanzig E-Mails mit überwiegend ablehnenden Voten erhalten, nach der Veröffentlichung des EKD-Papieres sind noch einige Briefe hinzugekommen. Dabei hat mich irritiert, mit welcher Aggressivität die Kritik vortragen wurde. Es gab allerdings auch etliche zustimmende Rückmeldungen.

Und was antworten Sie den Kritikern, die in der Orientierungshilfe die theologische Dichte und Klarheit vermissen?

Jung: Hier ist die Entstehungsgeschichte des Papiers nicht ganz unwesentlich. Die Ende 2008 eingesetzte Kommission hatte nicht die Aufgabe, eine ethische Grundlegung für das Verständnis von Ehe und Familie zu formulieren. Der Auftrag lautete vielmehr, angesichts des erkennbaren gesellschaftlichen Wandels zu beschreiben, welche praktischen Herausforderungen für die Familienpolitik und für Kirche und Diakonie bestehen. 

Der EKD-Ratsvorsitzende hat angekündigt, künftig bei der Einsetzung von Ad-hoc-Kommissionen zusätzlich 'akademische Exegeten' hinzuziehen zu wollen. Warum hat der Rat dies nicht schon 2008 bei der Berufung der Kommission „Ehe und Familie stärken“ getan?

Jung: Vermutlich weil der Auftrag anders erteilt war. Es ging ja nicht um eine katechismusartige Neuorientierung von Ehe und Familie, sondern um eine familienpolitische Akzentsetzung. Das Familienpapier enthält einen theologischen Teil, der dem vergleichbarer EKD-Schriften in punkto Ausführlichkeit sehr ähnlich ist. Offenbar besteht beim Thema Ehe und Familie aber eine größerer Bedarf nach Orientierung. 

Wenn man sich die lange Liste der Negativkritiker anschaut, stehen darauf fast ausschließlich Männer. Dagegen bewerten Frauen die Arbeit der Kommission in der Regel sehr wohlwollend. Das hat die Mitautorin des Papiers, Insa Schöningh, zu der These vom Geschlechterkampf angeregt. Was halten Sie davon?

Jung: Ich beobachte auch, dass sich insbesondere Männer mit der Neubewertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften schwer tun. Aber einen Geschlechterkampf kann ich beileibe nicht ausmachen. Die eigentliche Stoßrichtung des Papiers ist eine andere. Es thematisiert etwa die Spannung zwischen dem Wunsch nach stabilen, verlässlichen, partnerschaftlichen und gerechten Ehen und Familien und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und es stellt die politische Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Botschaft des Papiers ist klar: Familienpolitik darf nicht als Anhängsel der Sozialpolitik betrachtet werden. 

Einige Kritiker fordern Retuschen an der Orientierungshilfe. Was meinen Sie, wird es Änderungen geben? 

Jung: Ich glaube nicht. Die Papiere der EKD eröffnen immer eine Diskussion und sind aus gutem Grund keine lehramtlichen Verlautbarungen. Wir kennen keine Dekrete, wir wollen die Debatte. 

Sie haben allein in diesem Jahr zweimal öffentlich auf das Schicksal syrischer Flüchtlinge hingewiesen und unter anderem dafür plädiert, den Familiennachzug für die rund 40.000 in Deutschland lebenden Syrer zu ermöglichen. Die Resonanz darauf war eher bescheiden. Wäre es deshalb nicht angezeigt, sich künftig auf andere Art Gehör zu verschaffen. Erinnert sei hier nur an das breite Medienecho auf den Besuch von Papst Franziskus in einem Flüchtlingslager auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa.

Jung: Mein Appell und der manch anderer ist nicht ganz und gar verhallt. Immerhin können jetzt 5.000 Flüchtlinge im Rahmen eines Sonderprogramms in die Bundesrepublik einreisen. Das muss man würdigen. Beim Thema Familiennachzug wollen wir Landesregierungen noch einmal bitten, etwas großzügiger zu verfahren. 

Und was halten Sie von symbolhaften Handlungen?

Jung: Mich hat sehr gefreut, dass sich der Papst in dieser Weise des Themas angenommen hat. Auch ich suche nach neuen Wegen, um auf die verzweifelte Lage syrischer Flüchtlinge, das Schicksal Tausender Bootsflüchtlinge im Mittelmeer oder die Abschottungspolitik der Europäischen Union aufmerksam zu machen. Es muss aber immer darum gehen, den Menschen zu helfen. Inszenierungen lehne ich ab. 

Ist das Kirchenasyl noch ein angemessenes Mittel, um Flüchtlinge vor der Abschiebung in ein Krisengebiet zu bewahren, so wie es zuletzt die Gemeinde in Billertshausen bei Alsfeld mit Erfolg praktiziert hat?

Jung: Man darf auf dieses Instrument nur mit äußerster Zurückhaltung zurückgreifen, es gleichsam nur als 'ultima ratio' einsetzen. Dass es Gemeinden gibt, die von der Abschiebung bedrohte Menschen aufnehmen, finde ich nach wie vor wichtig und bewundernswert. 

Herr Kirchenpräsident, Sie haben kürzlich zum ersten Mal das Darmstädter Pharmazie- und Chemieunternehmen Merck besucht. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wirft nun der Vorstandsvorsitzende Karl-Ludwig Kley vor allem der evangelischen Kirche eine „diffuse und unreflektierte Ablehnungshaltung“ gegenüber der Wirtschaft vor. Ist das Verhältnis wirklich so zerrüttet?

Jung: Das sehe ich nicht so. Wir begrüßen, dass Menschen wirtschaftliches Risiko auf sich nehmen und Arbeitsplätze schaffen. Es gibt von der hessen-nassauischen Kirche ein grundsätzliches Ja zum Wettbewerb und zum Wachstum einzelner Unternehmen, damit sie auf dem Markt bestehen können. Wenn wir uns wachstumskritisch äußern, dann nimmt das in der Regel größere, globale Bezüge in den Blick. In der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft mahnen wir eine globale, ökologische und soziale Perspektive an. Konkret heißt das: Es kann nicht darum gehen, dass wir in Deutschland auf Kosten anderer weiterwachsen. Wachstum braucht auch qualitative Maßstäbe. Dazu gehören auch die weltweite Verteilung des Wohlstands und der soziale Frieden. 

Die Erlanger Publizistik-Professorin Johanna Haberer hat in der Berliner evangelischen Wochenzeitung Die Kirche eine „merkwürdige Stille“ in den Kirchen zur NSA-Spionageaffäre und zur verzweifelten Lage von Whistleblower Edward Snowden beklagt. Sie begründete dies damit, dass der Schutz der Privatsphäre zu den ureigensten Aufgaben von Kirche gehöre. Wollen Sie diese Stille ein wenig durchbrechen? 

Jung: Es ist sicher richtig, dass der Schutz der Privatsphäre zu den wesentlichen Aufgaben von Kirche gehört. Man denke nur an das Seelsorgegeheimnis. Ich habe auch eine große Sympathie für die Zivilcourage von Edward Snowden, der Dinge aufgedeckt hat, die uns alle sehr nachdenklich machen. Wir könnten den ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter aber aus zwei Gründen nicht in Deutschland aufnehmen: Zum einen ist es nicht möglich, außerhalb des Zufluchtslandes Asyl zu beantragen. Und falls Snowden im Land wäre, würde ein Auslieferungsersuchen der USA rechtlich höher bewertet als sein Asylantrag. Im Übrigen hat er ja jetzt in Russland einen Asylantrag gestellt. Bei allem Medienrummel rund um Snowden: Wir dürfen dabei nicht die vielen Menschen aus den Augen verlieren, die Hilfe bitter nötig haben wie etwa die Flüchtlinge aus Syrien.

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