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Die Notfallseelsorge wendet sich an alle Menschen und deren Angehörige in Krankheitssituationen, unabhängig von ihrer Lebens- & Glaubensorientierung. Außerdem begleitet sie auch das Klinikpersonal in Krisensituationen durch Gespräche oder rituelle Handlungen. Sie bewegt sich in einem interkulturellen und multireligiösen Raum, unterliegt der Schweigepflicht und ist nicht den Kliniken zur Auskunft verpflichtet! In den Kliniken gibt es in der Regel eine ökumenische Kooperation, vor allem mit der katholischen Kirche.

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Gemeinsam Wege aus dem Kasino-Kapitalismus suchen

Interview: Occupy und die Kirche

Dr. Klaus-Uwe Gerhardt/pixelio.de

Die Occupy-Aktivisten haben darauf aufmerksam gemacht, dass etwas nicht stimmt im Wirtschafts- und Finanzsystem. Pröpstin Scherle kennt beide Seiten: Sie ist in der Finanzmetropole Frankfurt im Gespräch mit Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik, kennt aber auch die Nöte der Menschen.

EKHNPröpstin Gabriele Scherle kennt beide Seiten

Das Occupy-Camp in Frankfurt am Main ist geräumt, seitdem haben sich vor dem Euro-Zeichen auf dem Willy-Brandt-Platz fünf bis fünfzig Aktivisten zu einer Mahnwache in wechselnder Besetzung zusammen geschlossen. Und die Frage bleibt: Wie kann ein menschenwürdiges und umweltfreundliches Wirtschafts- und Finanzsystem gestaltet werden? 

Pröpstin Gabriele Scherle kennt beide Seiten: Sie ist in der Finanzmetropole Frankfurt im Gespräch mit Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik, kennt aber auch die Nöte der Menschen, die am Rande stehen. Im Interview mit Rita Deschner berichtet sie über das konkrete Engagement von Kirche und Diakonie.

Welche Haltung haben Sie zur Occupy-Bewegung?

Gabriele Scherle: Die Occupy-Bewegung hat meines Erachtens die richtigen Fragen angesichts der Finanzkrise gestellt. Sie hat gegen die Auswirkungen des globalen Kapitalismus durch die symbolische Besetzung der öffentlichen Räume demonstriert. In der letzten Zeit konnte ich aber wenig kreative Auseinandersetzungen mit der Krise erkennen.

Der Frankfurter Oberbürgermeister hat angekündigt, dass die Diskussionen über das Finanzsystem auch nach der Räumung des Camps weitergeführt werden sollen. Wird sich die Kirche daran beteiligen?

Scherle: Wir sind schon auf vielfältige Weise daran beteiligt. Schon seit längerem gibt es Diskussionsveranstaltungen zur Finanzkrise in der Stadtakademie und in Arnoldshain. Vor allem die Hoffnungsgemeinde, in der das Camp lag, hat das Gespräch gesucht und Veranstaltungen zwischen den Occupy-Leuten und Bankern organisiert. Professor Nefhöfel, ein Mitglied des Kirchenvorstands dieser Gemeinde, hat sich als Mediator zur Verfügung gestellt. Unser Beauftragter für gesellschaftliche Verantwortung Pfarrer Gunter Volz hat Brücken gebaut und am Ende hat sich der Präses des Dekanats Frankfurt Nord, Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn, für den Erhalt des Camps ausgesprochen. Jetzt wird es darum gehen, dass es eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte gibt. Wir dürfen die Beantwortung diese lebenswichtigen Fragen nicht nur den Experten überlassen. Mit anderen gesellschaftlichen Kräften müssen wir uns hier weiter engagieren.

Welche Ideen und Ansätze hat die Kirche in die Debatte einzubringen?

Scherle: Meiner Auffassung nach spielt das Prinzip der Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle. Dies bedeutet, dass nur so viel Energie und Rohstoffe verbraucht werden dürfen wie nachwachsen. Als Theologin ist mir dieses Prinzip vertraut, denn wir gehen davon aus, dass Gott den Kosmos nicht nur geschaffen hat und verwandeln wird, sondern die Welt auch erhält. Gott wirkt also nachhaltig und wir können es in diesem Rahmen auch. Heute stellt sich die Frage, wie sich ein nachhaltiges Bankenwesen entwickeln lässt. So könnten Banken bei der Vergabe von Krediten und Finanzprodukten nur solche Unternehmen einbeziehen, die selbst nachhaltig wirtschaften. Banken sollten auch ihre eigenen Renditeerwartungen – nach den Maßstäben der Gerechtigkeit – nicht von der allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung abkoppeln.  Schließlich sollten bei der Unternehmensentwicklung alle Interessengruppen beachtet werden, auch Arbeitnehmer oder Arbeitern in Zulieferfirmen aus Entwicklungsländern. Die Fixierung auf den shareholder-value greift zu kurz. Diesen Vorstellungen schließe ich mich an, sie sind aus den Kriterien der UN und des Ökumenischen Rates der Kirchen entwickelt, wo die Nachhaltigkeitsdebatte schon in den 1960er Jahren begann. Diese Kriterien vertreten wir auch als Kirche.

Wo wird Ihrer Auffassung nach gegen das Prinzip des nachhaltigen Wirtschaftens verstoßen?

Scherle: Ich finde es ethisch fragwürdig, wenn Banken und Fondsgesellschaften auf Nahrungsmittel spekulieren. Dabei wird im Prinzip auf die erwartenden Ernten von Weizen, Mais, Reis und Soja gewettet. Das halte ich für unakzeptabel, denn damit wird die Lebensgrundlage von vielen Menschen gefährdet. Schon jetzt können viele die Preise für die Nahrungsmittel nicht mehr bezahlen. Das muss einfach aufhören. Ich denke, dass hier langsam ein Bewusstsein entsteht, dass auch Banker dafür verantwortlich sind, welche Folgen bestimmte Entscheidungen für die Menschheit haben. 

Frankreich führt Anfang August 2012 die Finanztransaktionssteuer ein. Im November 2008 haben Referenten aus dem Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN bereits die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gefordert. Bis jetzt wurde sie weder in Deutschland noch EU-weit umgesetzt.

Wie hat sich die EKHN konkret dafür eingesetzt?

Scherle: Als Kirche können wir uns mit Argumenten an der allgemeinen Diskussion beteiligen, das haben wir in unterschiedlicher Weise getan. Als Bürgerin halte ich die Finanztransaktionssteuer für einen wichtigen Schritt, um den Kasino-Kapitalismus einzudämmen. Unter Kasino-Kapitalismus verstehe ich Spekulationen, die sich von der Realwirtschaft abgekoppelt haben und eher einem Glückspiel als nachhaltigen Anlagestrategien ähneln.

Geben auch der christliche Glaube und die biblischen Schriften konstruktive Impulse für ein neues Wirtschafssystem?

Scherle: Wir können keine Ableitungen aus der Bibel machen. Die Bibel offenbart kein göttliches Wirtschaftssystem. Aber wir können neue Perspektiven für alle gewinnen. Heute sind meines Erachtens zwei biblische Ideen besonders relevant, die auch soziale Wirkungen entfaltet haben. 

Es sind der Sabbath, also der arbeitsfreie Tag in der Woche, der den Anspruch auf völlige Ausbeutung der Arbeitskraft begrenzt - und das Erlassjahr.

Können Sie das Erlassjahr genauer beschreiben?

Scherle: Auch in biblischen Zeiten kam es im alten Israel vor, dass sich Menschen in die Schuldversklavung gebracht haben oder gebracht wurden. Dann ist nach 50 Jahren das Erlassjahr ausgerufen worden. Dabei wurden die Eigentumsverhältnisse wieder hergestellt und die Schuldsklaven frei gelassen. Die Idee hat die biblischen Schriften inspiriert und ist auch in den Kampagnen zum Schuldenerlass für die Entwicklungsländer um die Jahrtausendwende wirksam geworden. Auch heute sollten wir uns von der Vorstellung leiten lassen, dass es wichtiger ist, die Verschuldungsdynamiken zu unterbrechen - damit auch Länder wie Griechenland eine Zukunft haben, statt die Gläubiger von den Folgen ihrer finanziellen Risiken zu bewahren.

Wie engagiert sich die evangelische Kirche in Frankfurt, um hier das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu verhindern?

Scherle: Meines Erachtens arbeiten Kirche und Diakonie in vielen Feldern der gesellschaftlichen Spaltung entgegen. Das reicht von Hilfe in Schulen, bei der Ausbildung oder das Betreiben eines Sozialkaufhauses bis hin zu Gesprächen mit politischen Parteien und Verantwortlichen der Wirtschaft. Das schließt aber auch die Beteiligung an Aktionen mit ein.

Kirche ist nah an den Menschen dran, an den reichen Mächtigen und den Verlierern des Systems. Welche Entwicklung nehmen Sie durch die Kontakte wahr?

Scherle: In unseren Beratungsstellen und diakonischen Einrichtungen bemerken die Mitarbeitenden sehr genau, dass sich die Situation der ärmeren Schichten auch in Frankfurt verschärft. Da ist das drückende Problem der Kinderarmut, die auch unseren Frankfurter Oberbürgermeister umtreibt oder die Arbeitslosigkeit unter jugendlichen Migranten. Ich habe auch erfahren, wie schwierig die Situation der Flüchtlinge aus Rumänien ist, die wir zunehmend auch im öffentlichen Raum wahrnehmen, wenn Sie an die Bettler auf der Zeil denken. Auch die Situation der vielen Illegalen ist menschenunwürdig.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Entscheidern und der wohlhabenden Bevölkerung gemacht?

Scherle: Das ist sehr unterschiedlich. Gerade in Frankfurt übernehmen wohlhabende Bürger viel Verantwortung für das Gemeinwesen. Es gibt aber inzwischen eine andere Gruppe, die soziale Kälte ausstrahlt. Dort geht man davon aus, dass man einen Anspruch auf das gute Leben hat, das man führt. Dies wird eng mit der Leistung verbunden, die man erbringt. Besonders ärgerlich ist es, wenn jungen Menschen, die ihren Wohlstand ererbt haben, meinen, andere als „Minderleister“ denunzieren zu können. Da ist es wirklich schwer, Gespräche zu führen. Ich glaube, wir haben inzwischen eine gesellschaftliche Situation wo sich eine Schicht Wohlhabender von der sozialen Realität abgekoppelt hat. Sie können wir auch als Kirche nur schwer erreichen.

Haben Sie auch Bereitschaft zur Selbstkritik aus der Finanzwelt erlebt?

Scherle: Ja. Ich habe auch einige Kontakte zu Bankern und bin in einem Nachhaltigkeitsbeirat einer Bank. Dort erlebe ich durchaus großes Interesse, die Position der Kirche zu hören. Es gibt auch viele, die bereit sind, ihr Tun in Frage zu stellen und die Grenzen des derzeitigen Finanzsystems zu sehen. Ihnen ist es eben nicht egal, welche Opfer das derzeitige System hervorbringt. Ich habe den Eindruck, dass diese kritische Haltung durch die Krise gewachsen ist. Denn auch diese Banker leiden an den Auswirkungen des Kasino-Kapitalismus. Sie stellen die gleichen Anfragen und sehen, dass sich einiges grundsätzlich verändern muss. Gleichzeitig fühlen sie sich aber auch als Opfer, denen alle Verantwortung aufgeladen wird.

Welche konkreten Beispiele gibt es, wo Wohlhabende betroffene Menschen vor Ort unterstützen?

Scherle: In der Diakoniekirche oder in der Katharinenkirche geben zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Bank während der Winterspeisung Essen an Wohnungslose aus. Ich fand es sehr spannend, mit den Bankern zu reden. Sie haben sich auf eine Situation eingelassen, die sie nicht kennen. Deshalb wird nicht gleich eine Revolution in Gang kommen. Aber ein Nachdenken darüber, wie Menschen auch in Deutschland leben müssen. Es wurde deutlich, dass sie ein Interesse am gesellschaftlichen Zusammenhalt haben.

Oder in Offenbach hat unsere Beauftragte für gesellschaftliche Verantwortung, Pfarrerin Anja Harzke ein Lern-Patenschaftsprojekt ins Leben gerufen. Dort haben mir Wirtschaftsleute erzählt, welche Befriedigung sie daraus ziehen, dass sie Kinder aus bildungsfernen Schichten bei deren Entwicklung einer schulischen und berufliche Perspektive unterstützen können.

Wie positioniert sich die Kirche in wirtschaftlichen und politischen Fragen?

Scherle: Mir ist wichtig, dass es zum Verständnis des Protestantismus gehört, dass sich protestantische Persönlichkeiten und die Vertreter der Kirche auf allen Ebenen in gesellschaftliche Konflikte eigenständig einmischen. Und ich freue mich, dass dies an vielen Orten geschieht, wie jetzt auch in den Auseinandersetzungen um das Occupy-Camp.

Ist die Kirche also eine Art politische Bewegung?

Scherle: Nein. Es muss in diesem Kontext klar sein: Es gibt Evangelische auf allen Seiten: In den Parteien, in den Unternehmen und in den Protestgruppen. Alle sind der Überzeugung, sie engagieren sich auch als Christen. Die Kirche ist keine politische Bewegung. Und bei politisch-ethischen Fragen haben wir zu unterscheiden zwischen Haltung und Verhalten. Über die christlichen Haltungen können wir uns alle verständigen, davon bin ich überzeugt. Aber welche konkreten Schritte zu gehen sind, da votieren wir verschieden und das ist kein Nachteil.

Welche Aufgabe hat dann die Kirche?

Scherle: Mir ist vor allem wichtig, dass wir nicht mit allwissender Stimme sprechen, als ob wir an der Stelle Gottes sprechen wollten. Dann wäre die Diskussion zu Ende. Besonders schwierig wird es, wenn man sich bei hitzigen Auseinandersetzungen gegenseitig das Christsein abspricht. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Kirche, die Diskussion zu fördern. Auch zu meiner Rolle als Pröpstin gehört es, dies zu ermöglichen und vor allem Gesprächszusammenhänge zu stärken. 

Als Pröpstin bin ich für die theologische und geistliche Orientierung verantwortlich – deshalb kann ich zu politischen Themen nur etwas sagen, wenn sie sich an der Grenze zu theologischen Haltungen bewegen. Natürlich kann ich  mich als Bürgerin an den Diskussionen beteiligen und wie alle anderen auch nach den besseren Sachargumenten suchen. Weil aber in einer Gesellschaft immer auch asymmetrische Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten herrschen, ist es notwendig, die Anliegen der Opfer in die Debatte einbringen, wenn sie es selbst nicht können. Auch darin besteht die Aufgabe der Kirche.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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